Es ist unübersehbar: Von Genf über Basel und auch in den Kantonen Waadt und Jura ist die tiefe Geothermie (ab einer Tiefe von etwa 500 Metern) im Aufwind. Eine Übersicht der Geothermie-Projekte finden Sie hier. Nach anfänglichem Zögern hat sich die Schweiz aufgemacht, ihren tiefen Untergrund zu erkunden und ihr geothermisches Potenzial zu erschliessen. Dieses grosse Unterfangen ist aber nicht ohne Risiko, denn unser Untergrund ist eine teure Black Box, deren Erkundung hohe Anfangsinvestitionen erfordert. Hinzu kommt, dass wir keine jahrzehntelange Öl- und Gastradition haben und deshalb eine leistungsfähige Industrie quasi von Grund auf neu aufbauen müssen. Dennoch ist die Tiefengeothermie eine überzeugende Lösung, um die aktuellen Herausforderungen im Energie- und Klimabereich zu bewältigen.
Eine Quelle für Wärme und Elektrizität: Der Schweizer Untergrund birgt ein riesiges natürliches Wärmereservoir, das unabhängig von klimatischen Bedingungen permanent und uneingeschränkt zur Verfügung steht. Die geothermischen Ressourcen des oberflächennahen Untergrunds werden bereits in grossem Umfang für die Wärmeversorgung von Wohnhäusern genutzt: In der Schweiz liefern Erdwärmesonden mit Wärmepumpen derzeit mehr als 80 Prozent der rund 4 Terawattstunden (TWh) Wärme, die aus geothermischer Energie gewonnen wird.
Diese erneuerbare Energie kann auch in anderen Bereichen genutzt werden – zum Beispiel für zentrale Heizungs- und Klimaanlagen oder zur Stromerzeugung, wenn die Wärmequelle eine Temperatur von mehr als etwa 110 Grad Celsius liefert. Sie kann auch Industriebetriebe, Stadtviertel oder sogar ganze Agglomerationen mit Energie versorgen. Und sie hilft uns sogar beim Ausgleich unseres Energiesystems, indem sie wertvolle saisonale Speicherkapazitäten bietet. So kann überschüssige Wärme im Untergrund gespeichert werden, um bei Bedarf genutzt zu werden.
Unsere europäischen Nachbarn haben bereits zahlreiche Projekte umgesetzt, die das wirtschaftliche Potenzial der «hydrothermalen Tiefengeothermie» aufzeigen. Hydrothermale Tiefengeothermie meint die Nutzung von Heisswasserquellen, die natürlicherweise in den durchlässigen Schichten des Untergrunds vorhanden sind. In Frankreich gibt es im Grossraum Paris rund 55 hydrothermale Projekte, die seit Ende der 1970er-Jahre fast eine Million Menschen mit Wärme versorgen. In der Schweiz gibt es nur ein vergleichbares Projekt in Riehen (BL), das seit 1994 fast 8000 Einwohner mit Wärme versorgt. Daneben können auch unkonventionelle Systeme entwickelt werden, wie beispielsweise stimulierte geothermische Systeme oder «Closed Loop»-Systeme, mit denen die Wärme aus dem Untergrund unabhängig vom Vorhandensein geothermischer Gewässer genutzt werden kann.
Vielversprechend ist auch die sogenannte petrothermale Tiefengeothermie. Sie erzeugt Strom und Wärme durch die Nutzung der Wärme in kristallinem Gestein in grosser Tiefe. In Finnland wurde 2021 zum Beispiel in der Nähe von Helsinki erstmals bis in eine Tiefe von 6,5 Kilometer gebohrt.
Das Bundesamt für Energie (BFE) schätzt, dass die Nutzung der Energie aus warmem, trockenem Festgestein bis Mitte des Jahrhunderts 2 Terrawattstunden an geothermischen Strom liefern wird. Technologische Fortschritte ermöglichen nicht nur die Erschliessung immer tieferer geothermischer Ressourcen, sondern erweitern auch das Anwendungsspektrum der Geothermie.
Interessen abwägen: Die tiefe Geothermie hat viele Vorteile. Sie liefert sogenannte Bandenergie, das heisst sie kann kontinuierlich genutzt werden, da sie nur von den spezifischen Eigenschaften des Untergrunds abhängt. Daher ist die Geothermie zumindest teilweise eine Alternative zur Kernenergie. Da die geothermische Energieproduktion flexibel ist und im Falle einer hohen täglichen oder saisonalen Nachfrage hochgefahren werden kann, kann sie zur Lösung des Versorgungsproblems im Winter und so auch zur Verminderung unserer Abhängigkeit von Gas beitragen. Zudem bleibt der Preis für geothermische Energie stabil, ganz im Gegensatz zur chronischen Preisvolatilität der fossilen Energieträger, und er wird auch nicht durch Klimaschwankungen beeinflusst.
Die Geothermie schürt jedoch auch ökologische Bedenken, insbesondere hinsichtlich der Verschmutzung der unterirdischen Trinkwasserressourcen. Zudem sind die Stimulations- und Bohraktivitäten nicht ohne Risiko und können Erdbeben mit Schadenfolgen auslösen, wie sie bei den Projekten in Basel und St. Gallen beobachtet wurden. Um diese Risiken zu mindern, können bewährten Verfahren und Standards, wie sie in der Ölindustrie seit Jahrzehnten in den Bereichen Reservoirmanagement und Bohrlochintegrität etabliert sind, auch bei der geothermischen Nutzung eingesetzt werden. Das Unternehmen Geo Energie Suisse hat im Rahmen ihres Tiefengeothermie-Pilotprojekts in Haute-Sorne im Kanton Jura ein System zur Überwachung von Erdbeben eingerichtet. Dadurch kann der Betreiber die Betriebsabläufe anpassen, um stets unter der niedrigsten Alarmstufe zu bleiben und bei einer Zunahme der seismischen Aktivitäten sofort reagieren zu können.
Geothermie und Lithiumproduktion: Bereits zeichnen sich neue Möglichkeiten ab, wie die wirtschaftliche Attraktivität der tiefen Geothermie weiter gesteigert werden kann. Eine zusätzliche Einnahmequelle für geothermische Projekte ist beispielsweise die «Kaskadennutzung» der Wärme: Zunächst wird Strom erzeugt, mit sinkender Temperatur dann Wärme, mit der Wohnhäuser, Gewächshäuser oder Fischzuchtbetriebe mit Warmwasser versorgt werden können. Einige geothermale Gewässer enthalten auch wirtschaftlich und strategisch wichtige Metalle, wie beispielweise geothermales Lithium, das bei der Herstellung von Autobatterien verwendet wird und den Übergang zur Elektromobilität fördern kann.
Ungenutztes Potenzial: In der Schweiz ist die oberflächennahe Geothermie mit Wärmepumpen auch heute noch die verbreitetste Methode zur Nutzung geothermischer Ressourcen. Die Investitionen, die für Projekte zur Erkundung des tieferen Untergrunds erforderlich sind, werden immer noch als zu hoch angesehen. Doch solche Investitionen ermöglichen gerade im Falle von unkonventionellen Geothermieprojekten, die Machbarkeit dieser vielversprechenden Technologie nachzuweisen. Aus diesem Grund wird der Bund die Geothermie wie andere erneuerbare Energien auch weiterhin unterstützen, sodass neue technische Fortschritte und Skaleneffekte erzielt werden können. Er schafft ein geeignetes regulatorisches Umfeld für die geothermische Energie und unterstützt den Markt, der in der Schweiz erst im Entstehen ist. Die zahlreichen Tiefengeothermieprojekte, die 2022 auf der Agenda 2022 stehen, zeigen, dass die staatliche Unterstützung bereits erste Früchte trägt.
Nicole Lupi, Fachspezialistin Geothermie, Bundesamt für Energie (BFE)
Der Artikel erschien zuerst in „Die Volkswirtschaft»/»La vie économique“
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