Angesichts der sich beschleunigenden Klimakrise wird die Bedeutung der Kernkraft, die derzeit ca. 10 % der weltweiten Stromproduktion ausmacht, für den zukünftigen Energieträgermix diskutiert. Einige Länder, internationale Organisationen, private Unternehmen sowie Forscher:innen messen der Kernenergie auf dem Weg zur Klimaneutralität und zum Ende fossiler Energien eine gewisse Bedeutung bei. Dies geht auch aus Energie- und Klimaszenarien des IPCC hervor. Dagegen legen die Erfahrungen mit der kommerziellen Nutzung der Kernkraft der letzten sieben Jahrzehnte nahe, dass ein solcher Pfad mit erheblichen technischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Risiken verbunden ist. Der vorliegende Diskussionsbeitrag erörtert Argumente in den Bereichen „Technologie und Gefahrenpotenziale“, „Wirtschaftlichkeit“, „zeitliche Verfügbarkeit“ sowie „Kompatibilität mit der sozial-ökologischen Transformation“ und zieht dann ein Fazit.
Technologie und Gefahrenpotenziale: In Kernkraftwerken sind jederzeit katastrophale Unfälle mit großen Freisetzungen radioaktiver Schadstoffe möglich. Dies zeigen nicht nur die Großunfälle, z. B. die Katastrophen von Tschernobyl und Fukushima, sondern auch eine Vielzahl von Unfällen, die sich seit 1945 in jedem Jahrzehnt und in jeder Region, die Kernenergie nutzt, ereignet haben. Von in Planung befindlichen SMR-Reaktorkonzepten („Small Modular Reactors“) ist keine wesentlich größere Zuverlässigkeit zu erwarten. Darüber hinaus besteht permanent die Gefahr des Missbrauchs von waffenfähigem Spaltmaterial (hochangereichertes Uran bzw. Plutonium) für terroristische Zwecke oder andere Proliferation. Die Endlagerung hochradioaktiver Abfälle muss aufgrund hoher Halbwertszeiten für über eine Million Jahre sicher gewährleistet werden; die damit verbundenen Langfristrisiken sind aus heutiger Perspektive nicht überschaubar und weisen zukünftigen Generationen erhebliche Lasten zu.
Wirtschaftlichkeit: Die kommerzielle Nutzung von Kernenergie war in den 1950er Jahren ein Nebenprodukt militärischer Entwicklungen und hat seit dieser Zeit niemals den Sprung zu einer wettbewerbsfähigen Energiequelle geschafft. Selbst der laufende Betrieb von älteren Kernkraftwerken wird heute zunehmend unwirtschaftlich. Laufzeitverlängerungen sind technisch und wirtschaftlich riskant. Beim Neubau von Kernkraftwerken der aktuellen 3. Generation muss mit Verlusten in Höhe mehrerer Milliarden US-$ bzw. € gerechnet werden. Zusätzlich fallen erhebliche und derzeit weitgehend unbekannte Kosten für den Rückbau von Kernkraftwerken und die Endlagerung radioaktiver Abfälle an. Energiewirtschaftliche Analysen zeigen, dass die Einhaltung ambitionierter Klimaschutzziele (globale Erwärmung 1,5° bis unter 2 °C) ohne Kernenergie nicht nur möglich, sondern auch unter Berücksichtigung von Systemkosten mit erneuerbaren Energien kostengünstiger ist. Hierzu kommt, dass Unfallrisiken von Kernkraftwerken nicht versicherbar sind und Schäden daher immer sozialisiert werden müssen. Die in aktuellen Diskussionen genannten SMR-Konzepte („Small Modular Reactors“) und die Konzepte der sogenannten „Kernkraftwerke der 4. Generation“ (nicht-Leichtwasser-gekühlt) sind technisch unausgereift und weit von kommerziellen Einsätzen entfernt.
Zeitliche Verfügbarkeit: Angesichts des stagnierenden bzw. in allen Kernkraftstaaten (außer China) rückläufigen Kernkraftwerksbaus, Planungs- und Bauzeiten von zwei Jahrzehnten (und mehr) sowie absehbar geringen technischen Innovationen kann Kernkraft in den für die Bekämpfung der Klimakrise relevanten Zeiträumen von zwei bis maximal drei Jahrzehnten keine Rolle spielen. Die Anzahl des Baubeginns von Kernkraftwerken ist bereits seit 1976 rückläufig. Aktuell befinden sich lediglich 52 Kernkraftwerke im Bau und nur wenige Länder versuchen den Einstieg in die Kernenergie. Traditionelle Hersteller wie Westinghouse (USA) und Framatome (Frankreich) sind finanziell angeschlagen und nicht in der Lage, im nächsten Jahrzehnt eine große Anzahl an Neubauprojekten in Angriff zu nehmen.
Kernkraft in der sozial-ökologischen Transformation: Die größte Herausforderung der großen Transformation, also von sozial-ökologischen Reformen in Richtung zu einem gesellschaftlich gestützten zukunftsfähigen, klimaneutralen Energiesystem, liegt in der Überwindung der Widerstände („Lock-in“) des alten, von fossilen Kraftwerken dominierten Energiesystems. Kernenergie ist nicht geeignet, diesen Transformationsprozess zu unterstützen, sondern blockiert diesen sogar: durch Innovations- und Investitionsblockaden. Nuklearer Wasserstoff ist weder aus technischen noch aus ökonomischen Gründen eine Option zur Steigerung der Auslastung von Kernkraftwerken. Japan ist ein plastisches Beispiel für Transformationsresistenz. In Deutschland schreitet die Atomwende zwar durch die Abschaltung der letzten sechs Kernkraftwerke (2021 bzw. 2022) voran, jedoch sind weitere Schritte zu einem vollständigen Atomausstieg notwendig, u. a. die Schließung der Atomfabriken in Lingen und Gronau. Die Atomwende ist auch eine notwendige Bedingung für eine erfolgreiche Endlagersuche.
Fazit: Im vorliegenden Diskussionsbeitrag wird eine Vielzahl von Argumenten geprüft und am bestehenden Stand der Forschung abgeglichen. Dabei bestätigt sich die Einschätzung der Scientists for Future aus dem Diskussionsbeitrag „Klimaverträgliche Energieversorgung für Deutschland“ vom Juli 2021, dass Kernenergie nicht in der Lage ist, in der verbleibenden Zeit einen sinnvollen Beitrag zum Umbau zu einer klimaverträglichen Energieversorgung zu leisten. Kernkraft ist zu gefährlich, zu teuer und zu langsam verfügbar; darüber hinaus ist Kernkraft zu transformationsresistent, d. h. sie blockiert den notwendigen sozial-ökologischen Transformationsprozess, ohne den ambitionierte Klimaschutzziele nicht erreichbar sind.
Quelle: internationales Team von Fachwissenschaftler*innen der Scientists for Future (S4F)
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