Montag, 8. November 2021

Atomkraft ist keine Lösung für Klimakrise


Angesichts der sich beschleunigenden Klimakrise wird die Bedeutung der Kernkraft, die derzeit ca. 10 % der weltweiten Stromproduktion ausmacht, für den zukünftigen Energieträgermix diskutiert. Einige Länder, internationale Organisationen, private Unternehmen sowie Forscher:innen messen der Kernenergie auf dem Weg zur Kli­ma­neutralität und zum Ende fossiler Energien eine gewisse Bedeutung bei. Dies geht auch aus Energie- und Klimaszenarien des IPCC hervor. Dagegen legen die Er­fahrun­gen mit der kommerziellen Nutzung der Kernkraft der letzten sieben Jahr­zehnte nahe, dass ein solcher Pfad mit erheblichen technischen, ökonomischen und gesell­schaftlichen Risiken verbunden ist. Der vorliegende Diskussionsbeitrag erör­tert Ar­gumente in den Bereichen „Technologie und Gefahrenpotenziale“, „Wirt­schaftlich­keit“, „zeitliche Verfügbarkeit“ sowie „Kompatibilität mit der sozial-ökolo­gischen Transformation“ und zieht dann ein Fazit.

Technologie und Gefahrenpotenziale: In Kernkraftwerken sind jederzeit katastro­phale Unfälle mit großen Freisetzungen radioaktiver Schadstoffe möglich. Dies zei­gen nicht nur die Großunfälle, z. B. die Ka­ta­strophen von Tschernobyl und Fukushima, sondern auch eine Vielzahl von Un­fäl­len, die sich seit 1945 in jedem Jahrzehnt und in jeder Region, die Kernenergie nutzt, ereignet haben. Von in Planung befindlichen SMR-Reaktorkonzepten („Small Modu­lar Reactors“) ist keine wesentlich größere Zuver­lässigkeit zu erwarten. Darüber hinaus besteht permanent die Gefahr des Miss­brauchs von waffenfähigem Spaltmaterial (hochangereichertes Uran bzw. Plu­to­nium) für terroristische Zwecke oder andere Proliferation. Die Endlagerung hoch­radio­aktiver Abfälle muss aufgrund hoher Halbwertszeiten für über eine Millio­n Jahre sicher gewähr­leistet werden; die damit verbundenen Langfristrisiken sind aus heu­tiger Per­spektive nicht überschaubar und weisen zukünftigen Generationen erheb­liche Las­ten zu.

Wirtschaftlichkeit: Die kommerzielle Nutzung von Kernenergie war in den 1950er Jahren ein Nebenprodukt militärischer Entwicklungen und hat seit dieser Zeit nie­mals den Sprung zu einer wettbewerbsfähigen Energiequelle geschafft. Selbst der laufende Betrieb von älteren Kernkraftwerken wird heute zunehmend unwirtschaft­lich. Laufzeitverlängerungen sind technisch und wirtschaftlich riskant. Beim Neubau von Kernkraftwerken der aktuellen 3. Generation muss mit Verlusten in Höhe meh­rerer Milliarden US-$ bzw. € gerechnet werden. Zusätzlich fallen erhebliche und der­zeit weitgehend unbe­kannte Kosten für den Rückbau von Kernkraftwerken und die Endlagerung radioak­tiver Abfälle an. Energiewirtschaftliche Analysen zeigen, dass die Einhaltung ambitio­nierter Klimaschutzziele (globale Erwärmung 1,5° bis unter 2 °C) ohne Kernenergie nicht nur möglich, sondern auch unter Berücksichtigung von Systemkosten mit erneuerbaren Energien kostengünstiger ist. Hierzu kommt, dass Unfallrisiken von Kernkraftwerken nicht versicherbar sind und Schäden daher immer sozialisiert werden müssen. Die in aktu­ellen Diskussionen genannten SMR-Konzepte („Small Modular Reactors“) und die Konzepte der sogenannten „Kernkraftwerke der 4. Generation“ (nicht-Leichtwasser-gekühlt) sind technisch unausgereift und weit von kommerziellen Einsätzen entfernt.

Zeitliche Verfügbarkeit: Angesichts des stagnierenden bzw. in allen Kernkraftstaaten (außer China) rückläufigen Kernkraftwerksbaus, Planungs- und Bauzeiten von zwei Jahrzehnten (und mehr) sowie absehbar geringen technischen Innovationen kann Kernkraft in den für die Bekämpfung der Klimakrise relevanten Zeiträumen von zwei bis maximal drei Jahrzehnten keine Rolle spielen. Die Anzahl des Baubeginns von Kernkraftwerken ist bereits seit 1976 rückläufig. Aktuell befinden sich lediglich 52 Kernkraftwerke im Bau und nur wenige Länder versuchen den Einstieg in die Kern­energie. Traditionelle Hersteller wie Westinghouse (USA) und Framatome (Frank­reich) sind finanziell angeschlagen und nicht in der Lage, im nächsten Jahrzehnt eine große Anzahl an Neubauprojekten in Angriff zu nehmen.

Kernkraft in der sozial-ökologischen Transformation: Die größte Herausforderung der großen Transformation, also von sozial-ökologischen Reformen in Richtung zu einem gesellschaftlich gestützten zukunftsfähigen, klimaneutralen Energiesystem, liegt in der Überwindung der Widerstände („Lock-in“) des alten, von fossilen Kraftwerken dominierten Energiesystems. Kernenergie ist nicht geeignet, diesen Transforma­tionsprozess zu unterstützen, sondern blockiert diesen sogar: durch Innovations- und Investitionsblockaden. Nuklearer Wasserstoff ist weder aus technischen noch aus ökonomischen Gründen eine Option zur Steigerung der Auslastung von Kern­kraftwerken. Japan ist ein plastisches Beispiel für Transfor­mationsresistenz. In Deutschland schreitet die Atomwende zwar durch die Abschal­tung der letzten sechs Kernkraftwerke (2021 bzw. 2022) voran, jedoch sind weitere Schritte zu einem voll­ständigen Atomausstieg notwendig, u. a. die Schließung der Atomfabriken in Lingen und Gronau. Die Atomwende ist auch eine notwendige Be­dingung für eine erfolg­reiche Endlagersuche.

Fazit: Im vorliegenden Diskussionsbeitrag wird eine Vielzahl von Argumenten ge­prüft und am bestehenden Stand der Forschung abgeglichen. Dabei bestätigt sich die Einschätzung der Scientists for Future aus dem Diskussionsbeitrag „Klimaver­trägliche Energieversorgung für Deutschland“ vom Juli 2021, dass Kernenergie nicht in der Lage ist, in der verbleibenden Zeit einen sinnvollen Beitrag zum Umbau zu einer klimaverträglichen Energieversorgung zu leisten. Kernkraft ist zu gefährlich, zu teuer und zu langsam verfügbar; darüber hinaus ist Kernkraft zu transformationsresis­tent, d. h. sie blockiert den notwendigen sozial-ökologischen Transformationspro­zess, ohne den ambitionierte Klimaschutzziele nicht erreichbar sind.

Quelle:   internationales Team von Fachwissenschaftler*innen der Scientists for Future (S4F)

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