Sonntag, 3. Oktober 2021

Totale Stromautarkie ist eine irre Schnapsidee

Ein drohender Versorgungsengpass rückt in den Vordergrund des Interesses: Weil das Stromabkommen mit der EU in absehbarer Zeit kaum zustande kommt, sehen Isolationist*innen aller Couleur ihre Zeit gekommen. Sie drohen mit einem Blackout, der alles lahm legt und fordern die totale Autarkie für die Stromversorgung.

Anthony Patt, Professor für Klimapolitik,
ETH Zürich. Plädierte in der Arena-Sendung
von SRF für Importe von künftig genügend
 verfügbarem Windstrom aus Europa -
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Hand aufs Herz: In was für einem Bereich ist die Schweiz total selbst versorgend? Auch in der viel gehätschelten Landwirtschaft ist das nicht der Fall. Die Produktionsausfälle dieses Sommers aufgrund von Wasser- und Hagelschäden haben bereits zu einer deutlichen Steigerung der Importe etwa von Obst und Gemüse geführt. Auch in Normalzeiten bewegt sich der Grad der Selbstversorgung nur um die 50-60 Prozent, natürlich mit produktespezifischen und zeitlichen Abstufungen. Für die reibungslose Versorgung ist die Landwirtschaftspolitik verantwortlich, die das weit gehend  anstandslos erledigt - preisliche Ausschläge auf den Märkten inbegriffen. Und erinnert sei auch an die Auslandabhängigkeiten in den übrigen Energiesparten - sowohl Uran für die AKW (wenn auch lagerbar) wie die Heiz- und Brennstoffe stammen überwiegend aus dem Ausland - eine Abhängigkeit, die mit Solar- und Windenergie sogar eindeutig vermindert werden kann.

Man mag argumentieren, die Landwirtschaft sei ein anderer Wirtschaftszweig als die Strom- und Energieversorgung. Aber im Grundsatz gilt hier wie dort: Ein kleines Land wie die Schweiz erreicht in keinem dieser Märkte auch nur annäherungsweise eine vollständige und über die Zeit anhaltende Autarkie, auser eventuell zu sehr hohen Kosten und mit unabwägbaren Unsicherheiten. Erinnert sei an die heutigen Verhältnisse in der Elektrizitätswirtschaft: Über's Jahr gesehen sind wir vor allem dank Wasserstrom sogar selbstversorgend, im Winter allerdings kommt es regelmässig zu Importen grösseren Stils - die aufs Jahr gerechnet aber auch nicht mehr als 10-15 Prozent des Gesamtstromverbrauchs ausmachen. Und im Sommer exportieren die CH-Elektrizitätswerke gar einen noch grösseren Anteil ins Ausland.  

Zugegeben: die Verhältnisse werden sich in den kommenden Jahren bedeutend verändern, die Dekarbonisierung der Wirtschaft (Null-CO2-Emissionen) erfordert selbst bei weit gehenden Effizienzmassnahmen ein Mehr an Strom. Über dessen Ausmass gehen die Vorstellungen allerdings weit auseinander. Und zudem gilt: die Veränderung wird sich über einen Zeitraum von zehn bis 30 Jahren erstrecken und steht keinesfalls schon morgen vor der Tür (AKW beispielsweise werden ja frühestens (aber dann hoffentlich) in den 30ern abgeschaltet). 

Die absehbare technische Entwicklung wird jeweils völlig missachtet, ein drohender Strommangel vielmehr heraufbeschworen (im Kanton Zug erwägen FdP-Parteigänger*innen gar eine Autarkie-Initiative). Neben steigender Effizienz im Verbrauch, die wie erwähnt sicher nicht genügt, zeichnen sich vor allem im Bereich der Stromspeicherung neue Lösungen ab, die das wesentliche Problem von Sonnen- und Windstrom, die nicht dauernde Verfügbarkeit, ohne Zweifel zu einem guten Teil lösen werden. Und wo das nicht der Fall sein wird, hilft ein in Europa künftig zweifelsfrei vorhandener Stromüberschuss dank dem rasanten Ausbau der Erneuerbaren Energien. Er wird Importe vor allem von Windstrom ermöglichen, auch wenn das derzeit noch von gewissen Kreisen genauso wie die Wirksamkeit der Corona-Impfung bestritten wird. Wie in der ja ebenfalls existentiell wichtigen Landwirtschaft ein Handel über die Grenzen also zum Vorteil aller. Warum soll das in der Energie plötzlich nicht mehr gelten? 

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