Der Schweizer Bundesrat hat im August 2019 ein ehrgeiziges Ziel zur Begrenzung des Klimawandels beschlossen: Ab
dem Jahr 2050 soll die Schweiz unter dem Strich keine
Treibhausgasemissionen mehr ausstossen. Damit entspricht die Schweiz dem
international vereinbarten Ziel, die globale Klimaerwärmung auf maximal
1,5 °C gegenüber der vorindustriellen Zeit zu begrenzen.
Welche Möglichkeiten zur Erreichung
dieses Zieles im Energiesektor bestehen, lotet nun eine Studie des Paul
Scherrer Instituts aus, die im Rahmen der Joint Activity «Scenarios and Modelling» der 8 Swiss Competence Centers for Energy Research (SCCER) durchgeführt wurde.
«Das Ziel, im Jahr 2050
Netto-Null-Kohlendioxid-Emissionen zu erreichen, erfordert
einschneidende Transformationen bei der Bereitstellung und dem Verbrauch
von Energie in beinahe allen Bereichen», fasst Tom Kober, Leiter der
PSI-Forschungsgruppe Energiewirtschaft und einer der Hauptautoren der
Studie, zusammen.
Bei ihren Analysen berücksichtigten die Forscher
energiebedingte Kohlendioxid-Emissionen sowie Kohlendioxid-Emissionen
aus industriellen Prozessen. Diese Emissionen stellen heute etwa 80 %
des gesamten Schweizer Treibhausgasinventars dar. Nicht in die
Berechnungen flossen ein: Emissionen aus dem internationalen
Luftverkehr, der Landwirtschaft – mit Ausnahme der Emissionen aus der
Kraftstoffverbrennung –, der Landnutzung, Landnutzungsänderung und
Forstwirtschaft sowie Abfall – ausser Emissionen aus der
Abfallverbrennung. Auch waren die Emissionen im Ausland, die im
Zusammenhang mit dem Güterkonsum in der Schweiz stehen, nicht Gegenstand
der Untersuchung.
Strom aus Photovoltaik muss sich mindestens jedes Jahrzehnt verdoppeln
Zentrale Schlussfolgerungen der Studie sind: Die
installierte Kapazität von Photovoltaikanlagen muss sich mindestens
jedes Jahrzehnt bis 2050 verdoppeln, sodass sich Photovoltaikanlagen mit
26 Terawattstunden Produktion im Jahr 2050 neben der Wasserkraft (circa
38 Terawattstunden im Jahr 2050) zur zweitgrössten Technologiegruppe
entwickeln. Weiterhin tragen Kraftwerke mit Kraft-Wärme-Kopplung sowie
Windkraftwerke, Wasserstoff-Brennstoffzellen und Stromimporte dazu bei,
die Stromnachfrage zu decken. Im Hauptszenario zur Erreichung des
Netto-Null-Emissionsziels steigt insgesamt die Stromerzeugung aus
Kraftwerken und Speicheranlagen in der Schweiz gegenüber dem
gegenwärtigen Niveau um etwa ein Fünftel auf 83 Terawattstunden im Jahr
2050 an. Die Studie unterstellt, dass die Schweizer Kernkraftwerke bis
zum Jahr 2045 ausser Betrieb genommen werden. Die private Autoflotte
müsste bis 2050 grösstenteils auf elektrischen Antrieben basieren. Bis
2030 müsste demnach jede dritte Neuzulassung ein vollständig elektrisch
betriebenes Auto sein. Zusätzlich müsste der Einsatz von Wärmepumpen im
Dienstleistungs- und Wohnbereich deutlich beschleunigt werden, sodass
bis 2050 fast drei Viertel des Heizungs-und Warmwasserbedarfs dadurch
gedeckt werden. Gleichzeitig wäre es notwendig, deutliche
Energieeinsparungen durch beschleunigte Renovierungen von Wohngebäuden
zu erzielen.
Will die Schweiz das Netto-Null-Emissionsziel
erreichen, muss mit einem deutlichen Anstieg des Stromverbrauchs
gerechnet werden. So könnte im Jahr 2050 der Stromverbrauch um 20
Terawattstunden über dem heutigen Niveau liegen. Ein wesentlicher
Treiber für dieses Wachstum ist die Verwendung von Strom für den Antrieb
von Autos, Bussen und Lastkraftwagen, entweder direkt über
batterieelektrische Fahrzeuge oder indirekt über Wasserstoff oder
sogenannte E-Fuels, also synthetische Kraftstoffe, die unter anderem
mittels Strom aus Wasserstoff und Kohlendioxid (CO2)
hergestellt werden. In den stationären Sektoren wird Strom zunehmend
durch die vermehrt eingesetzten Wärmepumpen verbraucht werden. Dieser
erhöhte Stromverbrauch kann allerdings kompensiert werden, wenn die
notwendigen Effizienzgewinne bei Heizung und Warmwasserbereitstellung
erreicht werden. Dann könnten die stationären Sektoren einen nahezu
gleichbleibenden Stromverbrauch erzielen.
Neben elektrischer Energie werden weitere
Energieformen eine Rolle spielen. So bieten beispielsweise der Fern- und
Güterverkehr sowie die energieintensive Industrie Perspektiven für neue
Wasserstoffanwendungen. Um den dafür benötigten Wasserstoff
emissionsarm oder -frei zu produzieren, wäre eine erhebliche Menge an
nachhaltig erzeugtem Strom (9 Terawattstunden in 2050) notwendig.
Ohne CO2-Abscheidung wird es wohl nicht gehen
«Wenn die Schweiz das Null-Emissions-Ziel bis 2050 erreichen will, dann müssen die CO2-Emissionen
in Zukunft im Durchschnitt jedes Jahr um eine bis anderthalb Millionen
Tonnen gegenüber dem Vorjahr verringert werden», sagt Evangelos Panos,
Hauptautor der Studie. «Veränderungen der CO2-Emissionen in
dieser Grössenordnung haben wir im Zeitraum 1950 bis 1980 gesehen –
allerdings in die umgekehrte Richtung – damals haben sie massiv
zugenommen.» Um die Emissionsminderung kostengünstig umzusetzen, sollte
deshalb auch der Einsatz von Technologien mit der sogenannten CO2-Abscheidung in Betracht gezogen werden. So könne man sogar in Teilbereichen auf eine negative Bilanz beim CO2-Ausstoss
kommen. Das sei beispielsweise dann der Fall, wenn man Biomasse als
Energieträger nutze und bei der Energiegewinnung entstehendes CO2
nicht emittiere, sondern abfange und unterirdisch speichere. Falls das
in der Schweiz nicht möglich sei – beispielsweise aufgrund der Ablehnung
durch die Bevölkerung oder aufgrund begrenzter CO2
Speicherstätten –, könne die internationale Vernetzung und die
Speicherung im Ausland einen Ausweg bieten. Insgesamt gehen die
Forschenden in ihrer Studie für das Jahr 2050 von knapp 9 Millionen
Tonnen CO2 aus, die in der Schweiz abgetrennt würden.
«Mehr als zwei Drittel der für das
Netto-Null-Emissionsziel notwendigen Emissionsreduktionen sind mit
Technologien erreichbar, die bereits kommerziell verfügbar sind oder
sich in der Demonstrationsphase befinden», resümiert Panos. Das
dekarbonisierte Energiesystem der Zukunft sei erreichbar, erfordere aber
kohlenstofffreie Energieträger, zum Beispiel entsprechend erzeugten
Strom, Biokraftstoffe und E-Fuels, Zugang zur entsprechenden Transport-
und Verteilungsinfrastruktur sowie die Möglichkeit, saubere Brennstoffe
und Elektrizität zu importieren.
Kosten sind schwer abschätzbar
In puncto Kosten geben sich die
Energiesystemforscher zurückhaltend. «Die Kosten sind sehr schwer
abschätzbar, weil dabei enorm viele Komponenten eine Rolle spielen», so
Kober. In dem in der Studie angenommenen Netto-Null-Hauptszenario würden
sich für den Zeitraum bis 2050 die durchschnittlichen diskontierten
Mehrkosten des Klimaschutzszenarios gegenüber dem Referenzszenario mit
moderatem Klimaschutz (-40 % CO2-Emissionen im Jahr 2050
gegenüber 1990) in der Schweiz auf etwa 330 CHF pro Person und Jahr
(Basis: 2010) belaufen. Betrachtet man alle untersuchten Szenarien, so
sieht man eine Bandbreite der durchschnittlichen Kosten zwischen 200 und
860 CHF pro Jahr und Kopf, was letztendlich unterschiedliche
Entwicklungen der Energietechnologien, der Ressourcenverfügbarkeit, der
Marktintegration, bei der Akzeptanz von Technologien und bei den
Präferenzen zur Versorgungssicherheit widerspiegelt. Der Verlauf der
Kosten zeigt vor allem eine langfristige Zunahme, sodass vergleichsweise
hohe Kosten auch nach 2050 zu erwarten sind.
Die Studie stützt sich auf die Berechnungen mit dem
Schweizer TIMES Energiesystemmodell (STEM) des PSI, welches das gesamte
Energiesystem der Schweiz mit den verschiedenen Wechselwirkungen
zwischen den Technologien und Sektoren abbildet. STEM verbindet einen
langfristigen Zeithorizont mit einer hohen unterjährigen zeitlichen
Auflösung und berechnet für verschiedene zukünftige Rahmenannahmen die
kostenminimalen Konfigurationen des Energiesystems und der Erreichung
verschiedener energie- und klimapolitischer Ziele. Das Modell wurde im
Rahmen des Forschungsprojektes massgeblich weiterentwickelt, vor allem
hinsichtlich der Optionen zur Erreichung von Netto-Null-CO2-Emissionsszenarien.
Das Modell wird zur Berechnung von Szenarien eingesetzt, die
keinesfalls als Vorhersagen zu verstehen sind, sondern vielmehr
Einblicke in die vielfältigen Wechselwirkungen im Energiesystem geben
und somit einen Beitrag zur Entscheidungsunterstützung in Politik,
Industrie und der Gesellschaft leisten. Konkret wurden in dieser Studie
drei Hauptszenarien untersucht, welche neben dem Referenzszenario ein
Netto-Null-CO2-Emissionsminderungsszenario umfasst und ein
Szenario, welches die Ziele der Schweizer Energiestrategie 2050
unterstellt, ohne explizit ein CO2-Minderungsziel vorzugeben.
Zudem wurden sieben verschiedene Varianten der Hauptszenarien
analysiert, wie zum Beispiel eine Variante mit hohem technologischen
Innovationspotenzial und eine Variante zur Verringerung der
Energieimportabhängigkeit.
An der Zusammenarbeit im Rahmen der SCCER Joint
Activity Scenarios and Modelling sind neben dem PSI folgende
Institutionen beteiligt: Empa, EPFL, ETH Zürich, Hochschule Luzern,
Universität Basel, Universität Genf und WSL. Finanziert wurde die Studie
durch Innosuisse – Swiss Innovation Agency.
Text: Paul Scherrer Institut
In der NZZ am Sonntag erschien am 7.März ein Text zur Studie - siehe >>> hier
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