Im Folgenden bespricht ein namhafter Publizist (Franz Alt - links im Bild) das neue Buch eines der weltweit bedeutendsten Solarpolitikers (Hermann Scheer - rechts). Die Schrift «Der energethische Imperativ» erscheint Ende September - die Vorbesprechung macht Lust auf mehr und Solarmedia wird auf das Buch zurückkommen.
Vor wenigen Jahren noch war es in allen Industriegesellschaften Mehrheitsmeinung, dass die erneuerbaren Energien niemals zu 100% die alten Energieträger ersetzen können. Heute aber ist unbestritten, dass der 100%-ige Umstieg nötig und möglich ist. Dies sagt auch die schwarz-gelbe Koalition in Berlin. Umstritten ist nicht mehr ob, sondern nur noch wann der vollständige Wandel zu erneuerbaren Energien zu realisieren ist.
Zurzeit heißen die strittigen Hauptfragen in Deutschland: Atomkraft – wie lange noch? Neue Kohlekraftwerke und wie viele? Energieeffizienz so konsequent, dass bis 2050 Gebäude keine konventionelle Heizenergie mehr brauchen? 100% erneuerbar bis 2.100 (die Energieversorger) bis 2050 (die Bundesregierung)oder schon bis 2030 (Hermann Scheer)?
Hermann Scheer ist in seinem neuen Buch („Der energethische Imperativ – 100% jetzt: Wie der vollständige Wechsel zu erneuerbaren Energien zu realisieren ist“) davon überzeugt, dass Deutschland und Europa bis 2030 zu 100 % erneuerbar werden können, wenn die politischen Weichen richtig gestellt werden. Das heißt, wenn sich die Politik nicht mehr länger von der alten Energiewirtschaft an der Nase herumführen lässt. „Der Wechsel zu hundert Prozent erneuerbaren Energien bedeutet den umfassendsten wirtschaftlichen Strukturwandel seit Beginn des Industriezeitalters“, so Scheer. Ein Strukturwandel, der freilich Gewinner und Verlierer produzieren wird. Verlierer werden unweigerlich die Anbieter der konventionellen Energie sein. „In welchem Umfang das der Fall ist, hängt von ihrer Einsicht und Bereitschaft ab, sich an Haupt und Gliedern umzustrukturieren, sich mit drastisch sinkenden Marktanteilen abzufinden und neue Tätigkeitsfelder für sich zu finden, die keine energiewirtschaftlichen mehr sein werden.“
Die Gewinner werden Millionen Hausbesitzer, Handwerker, Bauern und der gesamte Mittelstand sein. Scheer: „Die Gewinner des Wechsels werden die Weltzivilisation insgesamt und ihre Gesellschaften und Volkswirtschaften sein.“ Es wird mit Sicherheit viele Gewinner und wenige Verlierer geben. Das Problem: Den künftigen Gewinnern sind die Chancen noch nicht bewusst, sonst würde der Wechsel weit schneller erfolgen als sich das die meisten heute vorstellen können. Die Macht des Bestehenden hat schon immer notwendige Strukturwechsel gebremst. Es gibt freilich auch einen „Point of no return“. Und dieser könnte zum Beispiel beim Solarstrom schon 2012 oder 2013 erreicht sein, wenn der Strom vom eigenen Dach billiger zu produzieren ist als der Strom, der aus der Steckdose vom alten Energieversorger kommt. Das ist heute schon in Südspanien oder auch in Kalifornien und Israel der Fall.
Der Autor zeigt an vielen Beispielen, dass und wie frühere Strukturwandel viel rascher organisiert wurden als die Vertreter und Verfechter alter Strukturen dies wünschten und sich vorstellten: Beim Bau der Eisenbahnen, bei der Automobilität oder bei der IT-Revolution seit 1985. Und warum soll es ausgerechnet bei der für jede Volkswirtschaft so wichtigen Energiefrage anders kommen? Ohne Energie keine funktionierende Volkswirtschaft. Die konventionellen Energieträger – wie zum Beispiel das Erdöl oder das Erdgas – gehen viel rascher zu Ende als die Experten dies noch vor kurzem behaupteten. Das aber zeigt: Strom, Wärme, Benzin und Heizöl werden immer teurer und verursachen immer mehr Folgekosten und Umweltschäden. Erneuerbare Energien werden jedoch immer preiswerter, verursachen keine oder nur geringe Umweltschäden und sind nahezu unendlich vorhanden.
Jahrzehntelang wurden die Erneuerbaren unterschätzt und die alten Energieträger überschätzt. – auch von den Vertretern der erneuerbaren Energien. Der Ausbau des Windstroms wuchs in Deutschland seit 1990 etwa dreimal so schnell wie es der Bundesverband Erneuerbare Energien prognostiziert hat. Dasselbe passiert seit drei Jahren mit Photovoltaik-Strom. Die Weltenergie-Agentur in Paris hat sich beim Ausbau der erneuerbaren Energien schlicht um den Faktor zehn verschätzt. Alles ging in den letzten Jahren viel schneller, weil genügend Akteure in Politik, Wirtschaft, aber auch Privatpersonen, sich darum kümmerten. Einer der Hauptkümmerer weltweit in den letzten Jahren war Hermann Scheer, SPD-MdB, Präsident des Weltrats für erneuerbare Energien, Präsident von Eurosolar und Träger des alternativen Nobelpreises. Er war und ist der einflussreichste Protagonist für erneuerbare Energien in unserer Zeit. Die Bundesregierung will 2020 bei 35 % und die Verbände der erneuerbaren Energien bei 47 % sein.
Scheer aber ist überzeugt, dass der Anteil des erneuerbaren Stroms in Deutschland von heute 19 % bis 2020 auf 60% gesteigert werden kann. Voraussetzungen: 30% Energieeffizienz, Repowering der alten, kleinen Windkrafträder, Verdoppelung der kleinen Wasserkraft, Ausbau der Windkraft in allen Bundesländern wie in den letzten 10 Jahren in Sachsen-Anhalt. Um diese Prognose richtig einschätzen zu können: Selbst Greenpeace hatte noch 2006 geschätzt, dass bis 2050 lediglich die Hälfte des deutschen Energieverbrauchs ökologisch sein kann. Heute sagt auch Greenpeace 100 % bis 2050, aber Hermann Scheer prognostiziert 100% bis 2030.
Diese Vorhersage machte er schon 1993 in einer meiner damaligen Zeitsprungsendungen in der ARD, die wir sechsmal ausgestrahlt haben. Seither sind alle Prognosen Scheers in etwa eingetroffen – warum also nicht auch in der Zukunft? Warum sollten ausgerechnet jetzt die Bedenkenträger recht behalten, die sich in ihren pessimistischen Fehleinschätzungen stets grandios geirrt haben? Die Zeitschrift „Scientific America“ gab 2009 Hermann Scheer recht: Der gesamte Weltenergieverbrauch könne bis 2030 erneuerbar produziert werden. Und zwar durch diesen Energiemix: 3.8 Millionen Windräder mit je 5 Megawatt (MW) Leistung, 490.000 Gezeitenkraftwerke zu je 1MW, 5.350 geothermische Kraftwerke zu je 100 MW, 900 große Wasserkraftwerke zu je 1.300 MW (davon existieren bereits 70%), 720.000 Wellenkraftwerke zu je 0,75 MW sowie 1.7 Millionen Photovoltaik-Anlagen zu je 3 KW, 40.000 Photovoltaik-Kraftwerke zu je 300 MW und 49.000 solarthermische Kraftwerke zu je ebenfalls 300 MW.
Dieser „Plan for a sustainable Future“ geht davon aus, dass gegenüber heute durch Effizienz und Sparmaßnahmen 2030 etwa ein Drittel der heutigen Energieverbräuche eingespart werden kann. Die Energie werde künftig durch die erneuerbaren Quellen preisgünstiger als heute – so die Verfasser dieser Studie, Mark Jacobsen von der Stanford University und Mark Delucci von der University of California. Dieses Szenario klingt sehr ehrgeizig. Aber vor 100 Jahren hat sich auch kaum jemand vorstellen können, dass 2010 über 800 Millionen PKW auf dieser Erde herumfahren.
Die Umsetzung dieser realisierbaren Vision heißt: Die alten Energieversorger verlieren ihr Monopol, ihre Macht und ihre Gewinne, wenn sie sich nicht rasch umstellen. Und wer gibt für die Umsetzung solcher 100 %-Szenarien den alles entscheidenden Anstoß? Nicht ein „Konsens“ aller 200 Regierungen der Welt - das zeigen die ergebnislosen Weltklima-Konferenzen seit 20 Jahren – sondern jenes Industrieland, das vorangeht und dabei Millionen neue Arbeitsplätze schafft und sich künftig damit auch Exportvorteile erkämpft. Dass dieses Land Deutschland mit seinem Vorsprung bei den erneuerbaren Energietechnologien sein kann, versteht sich bei Hermann Scheer von selbst. Er hat schließlich – zusammen mit Hans-Josef Fell von den Grünen – das erfolgreiche deutsche Erneuerbare-Energien-Gesetz vorbereitet und durchgesetzt, jenes Gesetz, das inzwischen in der Intention von 47 Ländern übernommen wurde.
Der große ökonomische Vorteil der künftigen ökologischen Energieversorgung ist, dass Sonne und Wind keine Rechnung schicken, sondern als Geschenk des Himmels von jedem genutzt werden können, der sich die dafür notwendige Technik installieren lässt. Und diese Techniken werden durch zunehmende Massenproduktion immer preiswerter. Notwendig ist freilich neues Denken und erst recht neues Handeln. Jeder Strukturwandel stößt auf Widerstand, der nur durch Konfliktfreudigkeit überwunden werden kann.
Erneuerbare Energien, so der Autor, brauchen also keine langen Brücken wie längere Laufzeiten der AKW oder neue Kohlekraftwerke nach dem CCS-Prinzip, wo CO2 in der Erde gespeichert werden muss. Wir hätten durch CCS neben dem Atommüll nur noch weiteres Entsorgungsproblem, warnt Hermann Scheer. Erneuerbare Energien brauchen freilich neue Speicherkapazitäten wie Druckluft- und Pumpspeicher, Wasserstoff, Biogas und Millionen Elektroautos, die – hauptsächlich nachts, wenn die Sonne nicht scheint – massenhaft vernetzt auch große Kraftwerke ersetzen können. Der Autor ist davon überzeugt, dass bis 2020 in Deutschland zwei Millionen Elektroautos fahren werden, die Bundesregierung geht von einer Million aus. Nur Technik-Pessimismus könne den heute schon möglichen Fortschritt verhindern. Man muss kein Naturwissenschaftler sein, um zu ahnen, dass in einer Zeit, in der wir auf den Mond fliegen können, auch das Speicherproblem der Erneuerbaren Energien gelöst werden kann und auch viele neue Leitungen für die künftige dezentrale Energieversorgung gelegt werden können.
Brauchen wir zur Lösung unserer Energieprobleme in Europa künftig solaren Wüstenstrom aus Nordafrika? Hermann Scheer ist skeptisch. Um DESERTEC zu realisieren, wären 80 bis 100 große Leitungen (Super-Grids) durch mehrere Länder nötig, was heute bei zunehmenden Bürgerprotesten gegen Großbaustellen gesellschaftspolitisch unrealistisch scheint. Wir brauchen diese großtechnischen Lösungen auch gar nicht. Scheer sucht die näher liegende Lösung: Dächer statt DESERTEC. Warum in die Ferne schweifen…
Erneuerbare Energien brauchen kleine, dezentrale Strukturen. Darin liegen ihre gesellschaftspolitischen Chancen. Die künftige von Millionen Trägern organisierte dezentrale, in den Regionen verankerte Energieversorgung, wird demokratisch sein. DESERTEC wird ein „Milliardengrab“ prophezeit der Autor. „Dass sich die erneuerbaren Energien vollständig durchsetzen hat die Natur vorentschieden. Die Primärenergiewirtschaft, die ihre Existenz allein den fossilen Ressourcen und dem Uran verdankt, wird von der Bildfläche verschwinden – entweder früher als von ihr akzeptiert oder zu spät.“ Dieser fundamentale Konflikt sei noch nicht entschieden.
Auch mit seinem neuen Buch zeigt sich Hermann Scheer als Pionier und zugleich als politischer Realist. Für den 100-prozentigen Umstieg sieht er freilich vier ordnungspolitische Grundsätze als unabdingbar
* den bleibenden Vorrang für erneuerbare Energien im Strommarkt
* den Vorrang für erneuerbare Energien in der Raumordnungspolitik und öffentlichen Bauleitplanung
* eine grundlegende Umwandlung der Energiesteuern zu einer Schadstoffbesteuerung und
* eine stringente Gestaltung der Energie-Infrastruktur als Gemeinschaftsgut.
Scheer argumentiert ordnungspolitisch im Rahmen einer ökosozialen Marktwirtschaft. Sein ordnungspolitisches Credo: ökosozial statt marktradikal. Er entlarvt die alten Energie-Oligopole als planwirtschaftliche Monster. Die aktuellen Demonstrationen gegen längere Laufzeiten von AKW in Deutschland geben ihm recht: Atomenergie ist einfach nicht mehr gesellschaftsfähig.
Der „energethische Imperativ“ ist ein enkelverträgliches Buch. Weil sein Autor auch an das Wohl künftiger Generationen denkt, trägt sein Buch zu Recht den Titel „energethisch“ und nicht „energetisch“. Die Energiefrage ist auch ein moralisches Problem. Die technischen Probleme sind lösbar und zum Teil schon gelöst. Es gibt keine Ausreden mehr. Die alles entscheidende Frage heißt nun: haben wir noch Verantwortung für künftige Generationen? Dieses Buch ist gut lesbar und spannend – es ist die wichtigste „Agenda 21“. Ein Buch, das Hoffnung macht und die Bedenkenträger widerlegt. Es läutet das Ende der Ausreden ein.
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Quelle: © Franz Alt 2010 / Sonnenseite
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