Ein vorübergehendes Überschreiten der UN-Klimaziele von 1,5 bis 2 Grad Celsius Erwärmung könnte das Kipprisiko für mehrere Elemente des Erdsystems um mehr als 70 Prozent erhöhen im Vergleich zur im Pariser Klima-Abkommen angestrebten Begrenzung der Erwärmung, so das Ergebnis einer neuen Risikoanalyse eines internationalen Teams an Forschenden. Dieses Kipprisiko erhöht sich selbst dann, wenn sich die globale Temperatur längerfristig innerhalb des Pariser Rahmens stabilisieren würde. Eine Überschreitung zu vermeiden würde daher die Risiken begrenzen, so die Schlussfolgerung der Forschenden.
"Wir zeigen, dass das Risiko für einige Kippereignisse bei bestimmten Überschreitungsszenarien der globalen Erwärmung sehr stark ansteigen könnte", erklärt Nico Wunderling, Wissenschaftler am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung und Hauptautor der Studie, die in Nature Climate Change veröffentlicht wird. "Selbst wenn es uns gelänge, die globale Erwärmung nach einer Überschreitung von mehr als zwei Grad auf 1,5 Grad zu begrenzen, würde dies nicht ausreichen, da das Risiko, einen oder mehrere globale Kipppunkte auszulösen, immer noch mehr als 50 Prozent betragen würde. Mit einer weiteren Erwärmung auf lange Sicht steigen die Risiken dramatisch an."
"Um alle Kipprisiken wirksam zu verhindern, müsste der Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur auf höchstens ein Grad begrenzt werden – derzeit sind wir bereits bei etwa 1,2 Grad", ergänzt Jonathan Donges, Ko-Leiter des FutureLabs on Earth Resilience in the Anthropocene am PIK. "Der jüngste IPCC-Bericht zeigt, dass wir höchstwahrscheinlich auf dem Weg sind, die 1,5 Grad Celsius Temperaturschwelle vorübergehend zu überschreiten."
Auftreten von Kippereignissen nimmt mit steigenden Spitzentemperaturen zu
Um zu diesen Ergebnissen zu gelangen, benutzten die Forschenden, zusammen mit Ko-Autoren der Earth Commission, verschiedene Szenarien für eine Überschreitung der globalen Erwärmung mit Spitzentemperaturen von zwei bis vier Grad und wendeten diese auf eine Reihe von vier interagierenden Kippelementen an: den grönländischen Eisschild, den westantarktischen Eisschild, die atlantische meridionale Umwälzzirkulation AMOC und den Amazonas-Regenwald. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler stützten sich hierbei auf einen Risikoanalyse-Ansatz: Dieser basiert auf Millionen von Modellsimulationen, um die Unsicherheiten in den relevanten Parametern, wie beispielsweise in den kritischen Temperaturschwellen, sowie die Interaktionsstärken und die Interaktionsstruktur zu berücksichtigen. Eine solche Anzahl von Simulationen wäre auf der Grundlage von vollständig gekoppelten Erdsystemmodellen rechnerisch nicht realisierbar. Für die verschiedenen Szenarien analysierte das Forschungsteam dann das Risiko der Überschreitung kritischer Schwellenwerte und das Potenzial, kaskadenartige Wechselwirkungen zwischen den vier Elementen auszulösen, je nach Ausmaß und Dauer der Überschreitung sowie der langfristig verbleibenden Erwärmung.
"Wir haben festgestellt, dass das Risiko für das Auftreten mindestens eines Kippereignisses mit steigenden Spitzentemperaturen zunimmt – bereits bei einer Spitzentemperatur von drei Grad Celsius zeigte mehr als ein Drittel aller Simulationen ein Kippereignis, selbst wenn die Überschreitungsdauer stark begrenzt wurde. Bei vier Grad Celsius Spitzentemperatur steigt dieses Risiko auf mehr als die Hälfte aller Simulationen", erklärt Nico Wunderling.
Kippmechanismen bei Überschreiten von kritischen Temperaturschwellen
"Vor allem der grönländische und der westantarktische Eisschild sind schon bei kleinen Überschreitungen gefährdet, was unterstreicht, dass sie zu den am stärksten gefährdeten Kippelementen gehören. Während es lange dauern würde, bis sich der Eisverlust voll entfaltet, könnten die Temperaturniveaus, bei denen solche Veränderungen ausgelöst werden, schon bald erreicht sein", sagt Ricarda Winkelmann, Earth Commissioner und Ko-Leiterin des FutureLab on Earth Resilience in the Anthropocene. "Unser Handeln in den kommenden Jahren kann also über die zukünftige Entwicklung der Eisschilde für Jahrhunderte oder sogar Jahrtausende entscheiden." Die beiden anderen in der Studie betrachteten Kippelemente, AMOC und der Amazonas-Regenwald, haben höhere kritische Temperaturschwellen. Allerdings würden sie viel schneller reagieren, wenn der Kippprozess erst einmal begonnen hat. Daher ist es sehr viel schwieriger, ihren Kippprozess zu stoppen, sobald er durch eine vorübergehende Überschreitung der globalen Erwärmung eingeleitet wurde.
Die derzeitigen Maßnahmen zur Eindämmung der Klimaerwärmung werden voraussichtlich zu einer globalen Erwärmung von 2 bis 3,6 Grad Celsius bis zum Ende dieses Jahrhunderts führen. "Die Maßnahmen reichen nicht aus. Auch wenn ein vorübergehendes Überschreiten der Temperatur definitiv besser wäre als wenn wir einen Temperaturgipfel erreichen und dann dort bleiben, ist es möglich, dass bei diesen Temperaturen Kippelemente unwiderruflich ausgelöst werden. Deshalb sind niedrige Temperaturüberschreitungen hier entscheidend, um Kipprisiken wirksam zu begegnen", erklärt Jonathan Donges. Ricarda Winkelmann fügt hinzu: "Jedes Zehntelgrad zählt. Wir müssen alles tun, um die globale Erwärmung so schnell wie möglich zu begrenzen."
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